Das Fotoalbum in ihrer Hand ist alt und die Bilder darin vergilbt. Es sind Familienfotos, Schwarzweiss-Aufnahmen mit einem gezähnten Rand, sorgfältig sortiert nach Jahren. Die Mutter hat mit ihrer grossen, steilen Handschrift jedes Bild mit einer Bemerkung versehen. Unter dem Hochzeitsbild der Eltern steht »1951« und unter dem Foto, auf dem sie abgebildet war, mit Pagenfrisur, spargeldürr und einer Schultüte in der Hand, liest sie »Karins erster Schultag«. Ein paar Seiten weiter findet sie ein Foto des Vaters, verkleidet als Weihnachtsmann. Sie erkennt ihn, trotz der Kostümierung, an seinen lachenden Augen. Sie blättert nicht weiter denn sie weiss auch so, dass das Foto auf der nächsten Seite fehlt. Es zeigte den Vater und sie selbst. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, als wolle er sie vor etwas schützen. Sie sah zu ihm auf mit strahlenden Augen, so wie sie nur bei einem Kind strahlen können. Als sie das Album vor ein paar Jahren erbte, riss sie dieses Bild in tausend Fetzen und glaubte, damit die Erinnerung an den Tag getilgt zu haben, an dem ihre Kindheit endete.
An diesem Tag schickte sie die Lehrerin während des Unterrichts nach Hause. Sie sollte ihr Hausaufgabenheft holen, das sie in der morgendlichen Eile vergessen hatte.
Vor der Haustür zur Wohnung kramte sie umständlich den Schlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn in das Schlüsselloch, wollte aufschliessen, aber zu ihrer Überraschung war das Türschloss bereits entriegelt. Sie öffnete leise die Eingangstür und ebenso leise betrat sie die Wohnung. Offensichtlich war jemand zu Hause und sie wollte nicht bemerkt werden.
Der Graupapagei, der der Familie eines Tages zugeflogen war und den sie zu ihrer grossen Freude behalten durfte, schnarrte in der Küche und die Wohnzimmeruhr trug die Sekunden mit ihrem dunklen Ton durch die Räume. Sie eilte in ihr Zimmer, schnappte sich das Heft und wollte die Wohnung gerade wieder verlassen, als sie das Lachen ihres Vaters aus dem Elternschlafzimmer kommen hörte. Ein fröhliches Lachen, ein Lachen, dass sie lange nicht mehr bei ihrem Vater gehört hatte.
Neugierig schlich sie durch den langen Gang der Wohnung bis vor die Schlafzimmertür und schaute durch das Schlüsselloch, sah den Vater auf der Bettkante sitzen, hörte seine Stimme, die seltsam sanft und zärtlich klang. Dann stand er auf, ging auf die Tür zu. Erschrocken lief sie in ihr Zimmer zurück, schob sich durch den offenen Türspalt, blieb hinter der Tür stehen in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.
Bald hörte sie ihn in der Küche hantieren. Das schrille Geräusch der Kaffeemaschine war zu hören, das Öffnen des Kühlschrankes und das Auf- und Zugehen einer Schranktür. Der Vater summte eine Melodie, die sie nicht kannte. Etwas später sah sie durch den Türspalt ihres Zimmers, wie er in das Schlafzimmer zurückging. Er trug ein Tablett vor sich her, darauf zwei Tassen, die kleine silberfarbene Zuckerschale und das Milchkännchen, dass sie ihrer Mutter einmal zum Muttertag geschenkt hatte. Sie hörte ihn rufen: »Kaffeezeit«. Und dann hörte sie noch eine Stimme: »Danke«, sagte sie und »komm zu mir« sagte sie und es war nicht die Stimme ihrer Mutter.
Wie ein Keilhieb fuhr sie ihr in den Magen, diese fremde Stimme. Entsetzt verharrte sie in ihrem Versteck. Sie merkte, wie ihr kalt wurde. Schauer liefen ihr über den Rücken, der ganze Körper zitterte. Ihre Hände hatte sie, in einem unbewussten Vorgang, zu Fäusten geballt. Sie war so wütend, dass sie am liebsten mit diesen Fäusten gegen die Türe getrommelt und geschrien hätte.
Endlos schien ihr die Zeit, bis ihr Vater erneut aus dem Schlafzimmer kam. Er ging in das Badezimmer, sie hörte das pfft-pfft seines After Shave Flakons und sie hörte seine Stimme, wie sie in das Schlafzimmer herüberrief: »Soll ich dir ein Bad einlassen Georg?«
© Manuela Bacalja, Ravensburg