Ich schminke mich sorgfältig, ziehe das rote Kleid mit dem kleinen Ausschnitt an, der die Ansätze meiner Brüste zeigt. Das mache ich immer, wenn sich ein Besuch ankündigt, ich fühle mich dann wie eine Frau, die ihren Liebsten erwartet.
Meine Besucher nennen sich Fritz, Manfred oder Stefan und sehen alle ähnlich aus. Schwarzer, blauer oder grauer Anzug, weisses Hemd und eine Seidenkrawatte. Die Schuhe glänzen. Sie treten damit sehr leise auf, häufig höre ich sie gar nicht kommen. Erst wenn sie an die Türe klopfen, weiss ich, dass sie da sind.
Bevor sie in das Zimmer treten, schauen sie sich um. Niemand darf sehen, dass sie mich besuchen. Ihr Ansehen wäre ruiniert und sie würden ihre Macht verlieren, die ihnen so wichtig scheint. Sie lieben es, wenn ihnen ihr Konterfei morgens aus der Tageszeitung entgegenlacht, sie fühlen sich bedeutend und einmalig. Würden die Zeitungsleute von ihrem Kontakt zu mir Wind bekommen, wüsste es bald die ganze Stadt und mit dem schönen Leben wäre es aus.
Ich heisse Nadja, Maria oder Claudia. Meine Besucher dürfen den Namen für mich selbst wählen. Ich war auch schon Marilyn, Romy oder Sophia. Mir ist es egal, wie sie mich nennen. Sie wissen nichts über mich und wenn doch einmal einer fragt, tische ich ihm Lügengeschichten auf. Mal bin ich die Studentin, die sich etwas nebenher verdienen möchte, mal das einzige Kind einer kranken Mutter, die ohne meine finanzielle Unterstützung schon längst nicht mehr leben würde. Manchmal rühre ich diese Herren mit meiner Geschichte, dann legen sie ein paar Scheine mehr auf den Tisch, bevor sie gehen. Seit ich das weiss, denke ich mir immer traurigere Geschichten aus. In einem kleinen Notizbuch schreibe ich mir auf, wem ich was erzählt habe. Die meisten von ihnen kommen immer wieder und es wäre mir peinlich, wenn sie merken würden, dass ich sie belüge.
Meine Besucher bleiben häufig nur die Hälfte der gebuchten Zeit. Das sind für mich geschenkte Minuten, in denen ich Zeit für mich habe. Dann denke ich zurück, an meine Eltern, an meine Geschwister, die ich vor ein paar Monaten verlassen habe und die nicht wissen wo ich wohne, was ich tue.
Damals sah ich mich schon, wie meine Mutter, enttäuscht vom Leben und mit müden Augen die Kinder versorgen, die ich einmal bekommen werde. Ich wollte nicht so werden wie sie und ich wollte keinen Mann, der wie mein Vater, jeden Morgen aus dem Haus flüchtet, weil er seine Frau und die Kinder nicht mehr ertragen kann. Ich wollte keine Familie, die mir die Luft zum Atmen raubt.
Peter hatte leichtes Spiel mit mir. Als ich ihn das erste Mal sah, war ich sehr beeindruckt. Er war gross, gutaussehend, selbstsicher und er machte mir Komplimente. Ich sei wie geboren für diesen Job als Gesellschafterin, das sehe er sofort. Die Männer, die ich begleiten sollte, seien sehr gebildet, ich hätte nichts zu befürchten und ich bekäme pro Woche einen Tausender und Wohnen gratis.
Als ich das Zimmer in der kleinen Pension bezog, ging es mir gut. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der den ersten Flug aus dem Nest gut überstanden hatte und nun frei war für das eigene Leben und als das Telefon eine paar Stunden später klingelte und Peter mir sagte, der erste Kunde warte auf mich um 20 Uhr im Hotel Krone, war ich zwar ein bisschen nervös, aber sehr gespannt auf alles, was ich nun erleben würde.
Die Männer wollten aber mehr, als nur eine Begleitung zum Essen und sie zahlten sehr gut für nur eine Stunde nach dem Essen auf meinem Zimmer. Es war ein verlockendes Angebot, ich konnte es nicht ausschlagen. Schon lange gehe ich mit den Männern nicht mehr essen. Sie klopfen an die Tür, ich öffne, sie treten ein und für kurze Zeit bin ich fast die ihre. Sie sprechen deutsch, englisch, französisch, auch spanisch und sind immer in Eile. Die nächste Sitzung, das nächste Flugzeug, ein nächster Kongress. Sie hetzen von hier nach dort. Sie wissen nicht, warum sie das tun und für wen. Sie tun mir leid, ich möchte ihnen über das Haar streicheln, sie trösten.
Der heutige Tag wird anstrengend. Peter hat einige Besucher angekündigt, darunter ist ein Neuer. Etwas schüchtern soll er sein, ein Vatertyp, da weiss ich dann schon, was ich zu tun hätte, sagte Peter am Telefon, Bei ihnen muss ich mir meine Jugend wegschminken, ja ich weiss antwortete ich ärgerlich und ich dachte, sie wollen keine Bedienerin, die ihre Tochter sein könnte, Scheisskerle. Ich legte den Hörer auf, stand bewegungslos da, merkte, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen. Ich dachte an zu Hause. Vater, Vatertyp! Mein Vater war oft ruppig, aber wenn ich als Kind hinfiel und mir die Knie aufscheuerte, konnte er mich in den Arm nehmen und trösten, bis der Schrecken seine schwarze Farbe verloren hatte.
In meinen Adern pochte das Blut, ich kannte das schon. Es ist die Panik, die mich ergreift, wenn ich daran denke, in welche Sackgasse ich mit meinem Leben geraten bin. Die Kehle ist wie zugeschnürt und die Lippen kleben aufeinander, als hätte ich sie mit Klebstoff versiegelt. Es tut weh, sie zu öffnen, der Klebstoff reisst an ihnen, aber ich muss sie öffnen, denn der nächste Besucher kommt in ein paar Minuten, dann muss ich etwas sagen, zumindest erst einmal »Guten Tag«, aber nicht einmal diese beiden Worte werden mir gelingen.
Jetzt brauche ich einen Gedanken, der mich aus dieser Erstarrung hinausführt. Aber woher bekomme ich ihn so schnell? Ich denke an meine Träume, die ich mitnahm, als ich das Elternhaus verlies, das gelingt mir immer und rettet mich. Ein klammes Stöhnen, ein letztes Zittern, dann ist alles vorbei. Zurück bleibt eine Traurigkeit, die kehrt sich aber nach innen und versteckt sich in mir, niemand findet sie dort.
So kann ich die Tage und Nächte überstehen, kann lächeln, freundlich sein. Ich kann nur nicht ehrlich sein, aber das macht nichts in meinem Job.
Auch den heutigen Tag habe ich fast überstanden, nur noch ein Besucher, die Nacht habe ich frei. Ich werde schlafen und träumen. Ich schreibe mir gewünschte Träume auf einen kleinen Zettel und lege ihn unter mein Kopfkissen. Von dort drängen sie sich manchmal in meinen Schlaf und machen ihn ruhig.
Mein letzter Besucher, der scheue Vatertyp, kommt um Acht. Mir bleibt noch eine halbe Stunde, das ist gut. Ich schminke mir dunkle Augenlieder und rote Lippen, das lässt mich älter aussehen, trinke ein Glas Milch, um den Alkohol zu kompensieren, den ich tagsüber trinken musste, dann klopft es. Bei neuen Gästen bin ich immer ein wenig aufgeregt. Es ist fast wie beim ersten Rendezvous, man weiss nicht, was auf einen zukommt. Ich gehe langsam zur Tür, fahre über mein Kleid, um es zu straffen, der erste Eindruck ist wichtig, ich setze mein Lächeln auf und öffne.
Da steht er vor mir, mein Besucher, dass Lächeln stirbt auf meinen Lippen. Entsetzt schauen wir uns an, wie lange ist eine Sekunde, lange, zu lange in solchen Momenten, mir wird schwindlig, um nicht umzufallen halte ich mich am Türgriff fest, mein Besucher sagt nichts, starrt mich nur an, dreht sich dann um und stürzt fluchtartig die Treppe hinunter.
»Ernst«, rufe ich. »Ernst«. »Ernst«. Wie ich es fertig bringe ihm nachzurufen, weiss ich nicht und ich wunderte mich, wie leicht mir dieses »Ernst« fällt, denn ich hatte meinen Vater zuvor noch nie mit dem Vornamen angesprochen.
© Manuela Bacalja, Ravensburg