Das Telefon schellte. Es war weit nach Mitternacht. Eine Vollmondnacht. Das satte Licht des Mondes durchflutete Paulas kleine Wohnung. Das wird Julia sein, dachte sie, huschte aus dem Bett und lief mit nackten Füssen in das Wohnzimmer.
Während sie den Telefonhörer abnahm, spürte sie die laue Sommerluft auf ihrer Haut, die durch das geöffnete Fenster zu ihr herüberdrang. Die spärlich aber ge-schmackvoll eingerichtete Wohnung kam ihr auf einmal fremd vor. Sie stand im Schein des Mondes, der ihren Schatten gross und schwarz an die weisse Wand des Raumes warf. Paula bewegte sich, beobachtete dabei die Schattengestalt und es war ihr, als winke sie ihr zu.
Vom Wind in Bewegung gesetzt, klirrte leise das Windspiel, dass sie am Fenster hängen hatte. Beim Einzug in dieses Haus schenkten es ihr die Nachbarn, ein älte-res Ehepaar. Im Laufe der Jahre waren sie Freunde geworden. Es gefiel ihr, wie zärtlich die Beiden noch nach über vierzig Jahren Ehe miteinander umgingen. Ja, so hätte sie auch alt werden wollen mit Stefan.
Paula und Stefan - in zukünftiger Liebe hatte sie damals sehnsuchtsvoll in die Rin-de des Baumes gekerbt, der auf dem Weg ins Tal in einem schönen Waldstück stand und den sie auch heute noch oft besuchte.
Die Stimme im Telefonhörer riss an ihrem Erinnerungsnetz, dass sie gerade spann.
»Bist Du da, Paula, hallo«.
»Ja«, antwortete sie nur kurz.
„Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt, ich wollte dir nur sagen, dass wir gut an-gekommen sind. Bei uns ist es gerade fünf und die Sonne scheint noch recht warm«.
Julia rief immer an, wenn sie mit ihrem Mann auf Reisen war, denn sie wusste, dass Paula sich sorgte.
»In zukünftiger Liebe«, kam der Gedanke wieder. Oft fragte Paula sich, ob ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn sie zu jener Zeit, als noch alles möglich war, nicht so lange gewartet hätte. Vielleicht wäre etwas aus Stefan und ihr geworden, wenn sie ihm damals ihre Liebe eingestanden hätte. »Du darfst nicht den ersten Schritt ma-chen«, hatte ihr die Mutter eingebläut und so wartete sie, dass Stefan es tun würde.
Ich bin hängen geblieben an dieser zukünftigen Liebe, hängen geblieben wie die Fliege im Honig des Fliegenfängers, die angelockt vom süssen Duft des todbrin-genden Nektars eine Weile in ihm zappelt, um dann langsam zu verrecken, dachte sie.
»Paula geht es dir gut«, schrie Julia ins Telefon.
»Ja, es ist alles in Ordnung, ich bin nur etwas müde«.
»Julia, ihre Freundin Julia«. Noch nach so vielen Jahren spürte sie den ohnmächtigen Schmerz, der ihren Körper durchfuhr, damals, als die Freundin von ihrer gros-sen Liebe und der geplanten Verlobung erzählte.
»Julia und du hast nichts geahnt. Wie solltest Du auch«, dachte Paula. Sie fror plötzlich. Tränen liefen über ihr Gesicht.
Sie hörte gerade noch Julias Stimme, die sagte: »Paula, ich rufe wieder an, schlafe gut und ach ja, viele Grüsse von Stefan«.
© Manuela Bacalja, Ravensburg