KARLI

Es klingelt an der Haustüre. Grossmutter sitzt auf ihrem kleinen Hocker, der ohne Lehne, auf dem sitzt sie am liebsten. Sie hat ihn neben den Wohnzimmerschrank geschoben, da steht er sonst nie. Sie wirkt abwesend. Es klingelt ein zweites Mal. Grossmutter rührt sich nicht vom Fleck, sie sitzt wie versteinert.
Ich gehe zur Tür und öffne sie. Zwei kräftige Männer mit blauen Arbeitsanzügen stehen vor mir.
»Grossmutter, die Möbelpacker, rufe ich in die Wohnstube«.
Grossmutter antwortet nicht. Trotzdem bitte ich die beiden Männer mit einer einladenden Hand-bewegung in die Wohnung. Grossmutter siedelt in ein Altenheim um. Es ist ihr eigener Wunsch. Schon lange ist alles geplant. Vor ein paar Monaten bat sie mich um Hilfe beim Umzug. Nun ist es so weit. Sie kann ein paar eigene Möbel mitnehmen, die sie sorgfältig aus dem langjährigen Besitz ausgewählt hat. Auch der grosse Wohnzimmerschrank muss umziehen.
»Der Schrank muss mit«, fordert sie, als ich ihr vorschlage, nur kleinere Möbelstücke für den Umzug zu bestimmen. Im Altenheim steht ihr lediglich ein Zimmer zur Verfügung. Mit dem gros-sen Schrank wird sich Grossmutter räumlich sehr einschränken müssen. Aber sie beharrt da-rauf: »Der Schrank muss mit«.
Die Umzugsmänner bekommen von mir Instruktionen, dann beginnen sie ihre Arbeit. Ein fachmännischer Blick wandert über das Umzugsgut, dann wissen sie, in welcher Reihenfolge das Auto gepackt werden muss.
»Den grossen Schrank zuerst«, beschliessen sie.
Grossmutter sitzt immer noch neben dem Schrank, als würde sie ihn bewachen.
»Den zuletzt«, bestimmt sie kurz und bleibt wie angewurzelt sitzen.

Grossmutters entschlossene Haltung lässt keinen Zweifel darüber, dass sie es ernst meint und kein Wort sie umstimmen kann. Die alte Dame kommt mir sehr eigensinnig vor. So kenne ich sie nicht. Damit die Arbeit voran geht, weise ich die Männer an, erst mit den anderen Möbeln zu beginnen. Dann setze ich mich neben Grossmutter, fasse ihre Hand, streichle darüber und drücke sie ein paar Mal.
Kurze Zeit sitzen wir beide so, dann stehe ich auf und beginne Grossmutters persönliche Dinge einzupacken, die schon ein paar Tage zuvor für den Umzug zurechtgelegt hat – Bücher, Ge-schirr, einen Schuhkarton Briefe, Wäsche. Immer wieder schaue ich zu Grossmutter, die still neben dem Schrank sitzt und ab und zu liebevoll mit der Hand über die Seitenwand des Schran-kes streicht. Als die Mittagsstunde naht, sind alle Gegenstände verstaut. »Jetzt müssen wir aber den Schrank transportieren«, meldet sich einer der Männer. Grossmutter hat verstanden. Sie erhebt sich von ihrem Hocker, langsam und würdevoll. Sie dreht den Schrankschlüssel leise nach rechts, öffnet behutsam die Türe. Wir schauen ihr gespannt und etwas verwundert zu. Nach einer kleinen Weile hebt sie einen Behälter aus dem Schrank. »Meinen Karli trage ich selbst«, sagt sie und geht mit der Urne langsam die Treppe hinunter.
© Manuela Bacalja, Ravensburg