JAKOB

Ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes, in einem ruhigen Viertel der Stadt, sass Jakob, allein, eingehüllt in seinen Schlafsack. Er sass auf dem Gehsteig, im Türkensitz und schaute den Häusern entlang. Manche Fenster waren dunkel, in anderen brannte Licht und er stellte sich das Leben dahinter vor. Die Glocke des grossen Münsters trug zwölfmal ihre tiefen Töne durch die menschenleeren Strassen. Der Mond stand bleich am Himmel und beleuchtete nur knapp Jakobs Gesicht. Trotz seines Schlafsackes fröstelte Jakob, aber es war nicht die kühle Nacht, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte, es waren die Erinnerungen an Zeiten, in denen er noch seine Familie und ein zu Hause hatte.
Das war noch nicht so lange her, vielleicht vier Jahre oder fünf. Damals verlor er seinen Job. Dreiundzwanzig Jahre war er in diesem Architekturbüro ein zuverlässiger Angestellter. Als der Sohn des Firmengründers die Firma übernahm, war er mit seinen Ideen zu den neuen Bauprojekten nicht mehr innovativ genug und musste gehen. In der Firma nannte man diesen Vorgang Restrukturierung. Aber was das für den Einzelnen bedeutete, das malte sich niemand aus. Zuerst Entsetzen, dann Suche nach einem neuen Job, Verzweiflung, weil man mit fünfundfünfzig Jahren bereits viel zu alt war, um noch eine neue Chance zu bekommen, dann Depressionen. Seine Freunde warfen ihm damals vor, dass er sich gehen liesse, nicht genug dafür unternähme beruflich wieder Fuss zu fassen. Aber die wussten gar nichts von ihm, von seinen Kämpfen und der Erniedrigung, die man ihm antat, wenn man ihm als ausgebildeter Bauzeichner Jobs anbot, bei denen er Toiletten in Bahnhöfen putzen sollte.
Nun war er in seinem Leben an einem Punkt angelangt, wo es nicht mehr um Ausflüchte ging, es zählte nur noch die Wahrheit und die Wahrheit war, seine Frau und seine Kinder ekelten sich vor ihm. Er war ein Trunkenbold geworden, der nicht mal mehr eine Unterkunft bezahlen konnte, auf der Strasse lebte und um den die Menschen, die während des Tages an ihm vorbeigingen, einen grossen Bogen machten, weil sie den Gestank, der von ihm ausging, nicht ertragen konnten. Es gab Momente, in denen Jakob voller Tatendrang schien und der Glaube in ihm wuchs, er könne sich aus den Fesseln der Obdachlosigkeit befreien. Aber wenn er dann sein Spiegelbild in einem Schaufenster sah, verlor er Hoffnung, Glaube und die letzte Kraft, die in ihm steckte. Fortwährend traf er einen ehemaligen Arbeitskollegen oder Nachbarn oder sah einen einstigen Freund.

Er hatte schon lange aufgehört, hinter eine Hausmauer zu flüchten, um sich vor ihnen zu verstecken und wenn sie an ihm vorbeigingen und ihn übersehen wollten, hielt er ihnen seinen Hut entgegen, damit sie ihm ein paar Groschen hineinwerfen sollten. Und sie taten es, ohne ihn anzusehen und ohne auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Er hatte sich nie an dieses Leben gewöhnen können. Bevor er tagsüber eine belebte Strassenecke aufsuchte, an der es sich gut betteln liess, musste er jedes Mal seinen ganzen Mut zusammennehmen.
Jakob schaute immer noch zum Himmel, der ihm in dieser Nacht heller als sonst erschien. Er war mit weiss blitzenden Sternen übersät und scherte sich nicht um das, was unter ihm passierte. Jakob träumte mit offenen Augen von einer allerletzten Chance. Er hatte sie, heute Nacht fühlte er es genau. Er konnte nicht herausfinden an welchem Ort in seinem Körper dieses Gefühl sass. War es im Kopf, im Bauch, im Magen? Aber es war da und fuhr mit einer Kraft in seine Glieder, die ihm fast Unbehagen bereitete. Es war, als träte eine unsichtbare Gestalt vor ihn und rüttelte ihn so lange, bis sein Glaube und seine Zuversicht ein letztes Mal zu ihm zurückkehren würden und ihn in ein Leben führte, dass man Leben nennen konnte.
Er stand auf und ging ruhelos die Strasse auf und ab. Er hätte schreien mögen, damit die ganze Strasse ihn hörte und, um seiner Einsamkeit die Schwere zu nehmen. In seinem abgetragenen Jackett hing die Schnapsflasche in der ausgeleierten Seitentasche und baumelte dort hin und her. Automatisch griff er nach der Flasche, öffnete sie und trank einen grossen Schluck. Angewidert setzte er ab und zerschlug die Flasche im Rinnstein. Jakob war erregt wie lange nicht mehr. Er ballte die Fäuste, während er immer schneller werdend, die Strasse auf und ablief. Tränen liefen ihm über das Gesicht, er spürte sie salzig auf seinen Lippen. Es waren Glückstränen, das wusste er auf einmal und obwohl ein kühler Wind wehte, trat Schweiss auf seine Stirn.
»Allmächtiger!« flüsterte er, »rette mich«. Dann sank er erschöpft auf den Gehsteig, das Gesicht gegen den stillen Himmel gerichtet.
© Manuela Bacalja, Ravensburg