Mutter
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schliesst.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fliesst
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Mund.
Gottfried Benn
aus: Söhne. Neue Gedichte, 1913
Nur zwei Dinge
Durch so viel Form geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Gottfried Benn, 1953