DIE
KRAWATTE

Schön sieht er aus, ihr Egon, und die Krawatte steht ihm wirklich gut. Das sagen auch die Nachbarn und alle Freunde.
Blau war immer schon seine Farbe. Sie unterstrich die Couleur seiner Augen und sein Teint wirkte frischfarbiger als sonst. Vor Jahren hatte sie ihm ein dunkelblaues Hemd geschenkt. Wenn er es trug, verliebte sie sich immer wieder neu in ihn.
Als sie Egon kennen lernte, wirkte er äusserlich recht unscheinbar. Seine graubeigen Hemden hingen an ihm wie ein Krankenhausnachthemd, eins wie das andere. Seinen Hosen fehlten die scharf gebügelten Hosenfalten und die Schuhe waren abgetreten. Sie hatte sich damals vorgenommen, aus ihm einen stattlichen Mann zu machen und ganze Arbeit geleistet. Nun konnte sich seine Garderobe sehen lassen. Nur eines vermochte sie ihm nicht beizubringen – Krawatte tragen. Er wollte keine Krawatte tragen.
»Ich komme mir vor wie bei einer Hinrichtung durch den Strang«, erklärte er ihr, als sie ihn fragte, was er gegen dieses Kleidungsstück hätte. Auch auf ihre Erklärung, schliesslich zeige eine Krawatte um den Hals eines Mannes den Status der Familie und sie hätten doch nichts zu verbergen, reagierte er mit erregtem Widerwillen.
»Er wolle so ein Ding nicht um den Hals tragen«, beharrte er auf seiner Meinung und schlug alle noch so ernsthaft klingenden Argumente in den Wind.
Selbst zur Taufe ihres einzigen Kindes ging er ohne Krawatte in die Kirche. Den oberen Hemdknopf trug er offen und das sah ihrer Meinung nach äusserst liederlich aus. Sie schämte sich. Für einen Moment hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, die Festlichkeiten abzusagen. Doch was würden dann all die geladenen Gäste von ihr halten! Nein, die Feier musste stattfinden und durchgestanden werden und als Strafe sprach sie mit ihrem Egon eine Woche kein einziges Wort.

Nur einmal hatte er nachgegeben, das war an ihrer Hochzeit. Und wie sah er schick aus. Sie hatte den Fotografen gebeten, ein Foto von Egon zu machen, auf dem die Krawatte gut zur Geltung kam. Dieses zeigte sie ihm immer wieder, damit er sehen solle, wie fantastisch er mit dem Binder aussehe. Aber ihr Egon konnte ganz schön dickköpfig sein.
»Alles mache er mit, wenn es um Kleidung gehe, aber nein, einen Halswürger trage er nicht«.
»Störrisch wie ein alter Esel bist Du«, hatte sie ihm jedes Mal ärgerlich vorgeworfen, wenn er sich ihren Wünschen verweigerte. Egon nahm diesen Vorwurf mit einem Achselzucken hin.
Und nun hatte sie es doch geschafft. Egon trug die dunkelblaue Krawatte mit dem sehr dezent grau-weissen Muster, die sie für ihn vor ein paar Tagen gekauft hatte. Er sah darin sehr vornehm aus. Jeder musste es sehen: ihr Egon hatte es zu etwas gebracht und sie war sehr stolz.
Lange betrachtete sie ihn und dachte zurück an die vielen Jahre, die sie beide miteinander verbracht hatten. Egon war ein braver Ehemann und fürsorglicher Vater. Niemand konnte etwas anderes behaupten.
Sie streichelte über seine bleichen Wangen, sagte ihm ein paar letzte Worte. Leise und sehr traurig verliess sie erst am späten Abend das Leichenhaus.
© Manuela Bacalja, Ravensburg