DIE ALTE
NACHBARIN

Da liegt sie, unterhalb der Treppe und sagt nichts mehr. Ist einfach umgefallen. Von weitem beobachte ich, wie sie sich am Treppengeländer festhält, eine Weile stehen bleibt, als wolle sie verschnaufen, und dann rücklings die Treppen hinunterfällt. Diese alte Frau ist meine Nachbarin und mir schien sie immer ein bisschen verrückt.
Einmal kam sie mir im Treppenhaus entgegen, blieb vor mir stehen, beugte sich ein wenig vornüber, so dass sie meinem Gesicht ganz nahe war. Dann flüsterte sie etwas, das ich nicht verstand, dafür roch ich ihren Atem und der liess mich zurückweichen. Er stank wie unser Abfallkübel. Ihr war es scheinbar egal, denn sie trat noch etwas näher an mich heran und fing an zu lachen. Es war ein schrilles Lachen, das mir durch Mark und Bein fuhr. Ich konnte nur noch flüchten, schnell in meine Wohnung und Türe zu.
Nun lacht sie nicht mehr, liegt wie ein Häufchen Elend auf diesen Steinplatten und hat die Augen geschlossen. Hilfesuchend blicke ich mich um. Ein Nachbar schaut neugierig vom obersten Stock über das Geländer. Ich schreie zu ihm hinauf: »Rufen Sie einen Krankenwagen«.

Langsam bücke ich mich, knie neben dieser alten Frau, die kein Lebenszeichen mehr von sich gibt. Im Fernsehen hatte ich gesehen, wie man Mund-zu-Mund-Beatmung macht. Also, mit der einen Hand die Nase zuhalten, mit der anderen Hand den Mund öffnen und dann die eigene, tief eingeholte Luft in den Rachen der Bewusstlosen stossen.
O Gott, die alte Frau hat sich seit Jahren die Zähne nicht mehr geputzt. Ich rieche ihren abstossenden Atem und würge meinen Ekel dorthin zurück, woher er hergekommen war. Gerade als ich widerwillig meine Lippen auf die der alten Frau setze, öffnet sie die Augen, schaut mich an und schreit: »Hilfe, ein Dieb«.
Erschrocken fuhr ich hoch und lief, wie von der Tarantel gestochen, davon.
»Die Alte ist doch verrückt«, dachte ich noch, bevor ich das Quietschen von Reifen hörte, auf den Asphalt fiel und ohnmächtig wurde.
© Manuela Bacalja, Ravensburg